THEORIE

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Die Grundlage von Thomas Schneiders Arbeiten ist ca. 7.000 Jahre alt: die Schrift. Als eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit ermöglicht sie es, Kommunikation festzuhalten. Der Künstler profitiert davon, da er sich Schrift in bereits gestalteter Form aneignet, denn das Material für seine Collagen sind Plakate und andere Werbematerialien aus Papier.

Schrift wurde entwickelt, indem Zeichen eine bestimmte Bedeutung erhielten. Thomas Schneider kehrt diesen Prozess um: Indem er Buchstaben zerschneidet und neu zusammenfügt, führt er sie wieder ihrem zeichenhaften Ursprung zu. Aus konkreten Werbebotschaften werden abstrakte Zeichen, ungegenständliche Formen. Eindeutige Kommunikation wird zum offenen, vieldeutigen Motiv.

Diese Motiv-Ebene ist es, die zuerst ins Auge fällt: klare Formen, kräftige Farben, konstant monochrome Flächen. Die klare Bildsprache der Arbeiten ist anziehend, schnell zu erfassen, ja wirkt verdächtig vertraut – die heutige Mediensozialisation bzw. -konditionierung hat ganze Arbeit geleistet. Sie beeinflusst unsere Wahrnehmung und bildet mit dem Erkennen von bzw. dem (unbewusst erlernten) Wissen um mediale Ästhetiken einen ersten wichtigen Zugang zu Thomas Schneiders Collagen. So ist auf oberster Ebene je nach Form bzw. Größe der verwendeten typografischen Ausschnitte sowie der Medienerfahrung der BetrachterInnen manchmal erkennbar, von welcher Firma das verwendete Werbematerial stammt.

Weitere Hintergründe und Verweise verpacken die Collagen wie eine Werbebotschaft unter der verlockenden Oberfläche ihrer formalen Ästhetik. Dort zeigen sich kritische Aspekte: Ist es Zufall, dass sich beim Versuch des Zuordnens oder Entzifferns der Collagen ähnliche Überforderung einstellen kann wie beim Zurechtfinden im Überfluss der Konsumwelt – genau jener Welt, die das Collage-Material hervorgebracht hat? Als kurzlebige Massenprodukte öffnen die Ausgangsmaterialien einen weiteren Blickwinkel: So wie die einfachen Werbeprospekte durch den künstlerischen Prozess zu hochwertigen und exklusiven künstlerischen Arbeiten werden, so werden auch die darin angepriesenen Massenprodukte durch Markenzuschreibung, künstliche Verknappung und Preispolitik nicht selten zum Luxusobjekt. Der Kreis schließt sich, wenn der Künstler für eine Collage mehrere Exemplare des gleichen Plakates oder Prospektes benötigt: Manchmal ist das erforderliche Material limitiert; an mehrere gleiche Exemplare ist kaum heranzukommen. Dann wird für den künstlerischen Prozess jedes Stück solch eines vermeintlich billigen Massenprospektes zum unbezahlbaren Luxusgut.

Von besonderem Wert ist das Ausgangsmaterial für Thomas Schneider auch deshalb, weil er es an unterschiedlichsten Orten selbst sammelt. Ob zu Hause, in der Stadt oder unterwegs im Ausland – jede Collage trägt aufgrund ihrer Materialherkunft ihre ganz eigene Geschichte in sich. So erzählt eine Collage beispielsweise von jenem Sommer, in dem der Künstler auf der Suche nach identischen Kartonsteigen eine ganze Insel mit dem Fahrrad abgeradelt ist.

‚Geschrieben‘ werden diese Geschichten ganz analog: mit Schere und Kleister auf Leinwand. „Ich dekonstruiere, indem ich auseinanderschneide, und konstruiere, indem ich eine neue Form erschaffe“. Und warum sollten Thomas Schneiders neu erschaffene Zeichen nicht auch neue Bedeutungen enthalten, weitergedachte Ansätze vermitteln, ein neues Bewusstsein fördern? Gerade, wenn alte Botschaften zerstört und daraus neue, regelrechte ‚Anti-Botschaften‘, werden. Nachhaltig-reflektierter Umgang mit Konsum und Medien wäre nur die unmittelbare Ableitung.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die Collagen einerseits Kritik an der heutigen Form der Medien- und Konsumlandschaft beinhalten, andererseits jedoch ohne diese kaum bestehen und kaum ihre Relevanz entfalten könnten. In dieser Ambivalenz spiegelt sich die komplexe Dynamik der aktuellen Zeit, die Gleichzeitigkeit von Abhängigkeiten bzw. Verkettungen und Zerrissenheit. In diesem Sinne können Thomas Schneiders Arbeiten gelesen werden als Zeitdokumente, als Konzentrate von Kommunikation – aufladbar mit Inhalten neuen Bewusstseins und neuer Positionierungen. Ähnlich Visionäres hatte man vielleicht auch vor ca. 7.000 Jahren im Sinn. Nur hat damaliges Werbematerial dafür noch nicht so viel hergegeben. Zum Glück vielleicht.

Bei seinen Objekten arbeitet er mit ähnlichem Prinzip: aus dem ursprünglichen Kontext herausgenommene „alltägliche Dinge“ bekommen durch eine Veränderung des Kontextes eine neue Bedeutung und setzen sich mit der ursprünglichen Funktion auseinander.

Unbekannte Bekannte

Neben Collagen fertigt Thomas Schneider auch Objekte. Diesen liegt meist ein ähnliches Konzept wie den Collagen zugrunde: Vorhandenes wird neu dargestellt bzw. arrangiert und offenbart dadurch ein unerwartetes Gesicht.

Während der Künstler dazu für die Collagen das Ausgangsmaterial verändern bzw. zerstören muss, erreicht er den Veränderungsmoment bei seinen Objekten, ohne sie an sich zu bearbeiten, auf zweierlei Art: durch Kombination und durch Isolation.

Zum einen kombiniert Thomas Schneider Symbole bzw. charakteristische Elementmerkmale mit Alltagsdingen. Dabei ermöglichen beide Teile einen gemeinsamen Schnittpunkt – und dadurch neue und bisweilen verstörende Bedeutungsebenen: Ruft das Kreuz wirklich zum Frieden auf? Oder nur zum friedlichen Konsum, wie es der Name einer bekannten Möbelserie vermuten lässt? Verheißt der Ring aus Stacheldraht schmerzliche Erkenntnis nach qualvoller Flucht – oder ist er Kranz zum Gedenken an jene, denen Rettung verwehrt blieb? Gegensätzliches kann sich erschreckend nah sein.

Auch das Prinzip des Isolierens erweitert gewöhnliche Dinge um unerwartete Ebenen – wenn Thomas Schneider alltägliche Gegenstände und Symbole aus ihrem Umfeld, in dem man sie kennt, herauslöst, ja ‚befreit‘. Der Künstler zeigt Dinge pur und ohne gewohnten Kontext – gänzlich nackt. So entpuppt sich der eigentlich unscheinbare Grenzstein in seiner Blöße als tiefsitzender Stachel – oder als zaghafter Mast für eine Friedensfahne? Ähnlich kann der klassische Jägerzaun durch simple Drehung vom Trennenden zur verbindenden Leiter werden.

Thomas Schneider zeigt das Potenzial im vermeintlich Banalen, ermöglicht neue Blicke auf scheinbar alt Vertrautes. Anhand aktueller sowie zeitloser Inhalte geben die Arbeiten wertvolle Impulse für bewussteres Wahrnehmen.

Beide Texte: Daniel Scheffel

VIDEOS

Platforms Project NET Athens, Mai 2020: Thomas Schneider – Alpha

Arbeitsbesprechung, Oktober 2020